24.09.2025
Kommentar von Eva Quadbeck in der WZ von heute: "Vor diesem Hintergrund ist eine Reform des Bürgergelds dringlich, die all jene in Arbeit bringt, die einer Erwerbsarbeit nachgehen können.".
Die Aussage von Eva Quadbeck, eine Reform des Bürgergelds sei „dringlich“, um alle Arbeitsfähigen in Arbeit zu bringen, verdient eine genauere kritische Betrachtung:
- Vereinfachung der Realität
Die Formulierung klingt so, als ob es viele gäbe, die „eigentlich könnten, aber nicht wollen“. Empirisch ist das Bild jedoch differenzierter: Der Großteil der Bürgergeld-Beziehenden arbeitet bereits (Aufstocker), sucht aktiv nach Arbeit oder ist in Maßnahmen wie Weiterbildung, Qualifizierung oder Kindererziehung eingebunden. Die pauschale Vorstellung von „arbeitsfähigen, aber unwilligen“ Menschen ist stark verkürzt und stützt ein Klischee, das sich mit den Daten kaum deckt. - Arbeitsmarktprobleme werden ausgeblendet
Nicht jeder, der arbeiten könnte, findet auch eine passende Stelle. Gerade in strukturschwachen Regionen oder für Geringqualifizierte gibt es oft nur prekäre Jobs mit unsicheren Bedingungen. Wer hier einfach fordert, Menschen „in Arbeit“ zu bringen, übergeht die Verantwortung von Politik und Wirtschaft, gute Arbeitsplätze zu schaffen. - Gefahr des reinen Drucks
Wenn mit „Reform“ vor allem Verschärfungen gemeint sind – strengere Sanktionen, weniger Schonvermögen, geringere Regelsätze –, bedeutet das mehr Druck auf Betroffene. Solcher Druck führt aber nicht automatisch zu mehr Integration in den Arbeitsmarkt, sondern kann Armut, Verschuldung und psychische Belastungen verstärken. Damit wird eher das Gegenteil von nachhaltiger Arbeitsaufnahme erreicht. - Mangelnde Differenzierung
Die Gruppe der Bürgergeld-Beziehenden ist heterogen: Alleinerziehende, chronisch Kranke, Menschen mit fehlender Qualifikation oder ohne ausreichende Kinderbetreuung. Eine Politik, die sie alle „in Arbeit bringen“ will, ohne diese Unterschiede zu beachten, ignoriert die sozialen Realitäten. - Blickrichtung umkehren
Dringlich wäre nicht eine Reform, die stärker auf Zwang setzt, sondern eine, die:
- Qualifizierung und Weiterbildung ausbaut,
- Erwerbsarbeit attraktiver macht (höhere Löhne, weniger Befristungen, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf),
- und so tatsächlich Perspektiven eröffnet, statt nur Druck auszuüben.
Quadbeck wiederholt in ihrem Kommentar eine bekannte Erzählung – „es gibt genügend Arbeitsfähige, man müsse sie nur stärker antreiben“. Das ist politisch eingängig, aber analytisch oberflächlich. Wer wirklich etwas gegen Langzeitarbeitslosigkeit tun will, muss die Strukturen des Arbeitsmarkts und die Bedingungen von Arbeit verbessern, statt Bürgergeld-Empfänger*innen pauschal unter Verdacht zu stellen.

23.09.2025
Linnemann zu Aufstocker
Carsten Linnemann (CDU) greift mit seiner Aussage ein wichtiges, aber auch komplexes Thema auf – den Missbrauch von Sozialleistungen. Doch seine pauschale Formulierung verkennt die Realität vieler Menschen in Deutschland. Nicht jeder, der weniger Stunden arbeitet und Leistungen aufstockt, tut dies aus Bequemlichkeit oder fehlendem Arbeitswillen. Vielmehr spiegeln diese Situationen häufig strukturelle Probleme wider: niedrige Löhne, befristete Beschäftigungsverhältnisse, mangelnde Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder gesundheitliche Einschränkungen.
Wenn jemand in Vollzeit arbeitet und dennoch aufstocken muss, liegt das Problem regelmäßig nicht beim Individuum, sondern beim Arbeitsmarkt und den Rahmenbedingungen, die solche Löhne zulassen. Auch wer nur Teilzeit arbeitet, tut dies oft nicht freiwillig, sondern weil Care-Arbeit, fehlende flexible Arbeitsmodelle oder schlicht fehlende Angebote am Arbeitsmarkt dies erzwingen.
Eine Politik, die Betroffene moralisch unter Druck setzt, lenkt davon ab, die eigentlichen Ursachen anzugehen: faire Löhne, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ein Sozialsystem, das vor Armut schützt. Anstatt Menschen, die Leistungen beziehen, unter Generalverdacht zu stellen, sollte die Politik die Verantwortung dort suchen, wo sie hingehört – bei Unternehmen, die Niedriglöhne zahlen, und bei Strukturen, die Chancenungleichheit verfestigen.
29.08.2025
Zum israelischen Siedlungsbau im Westjordanland
Der israelische Siedlungsbau im Westjordanland ist eines der umstrittensten Themen im Nahostkonflikt und wird von unterschiedlichen Seiten sehr unterschiedlich bewertet. Mit diesem Kommentar möchte ich möglichst ausgewogen beide Perspektiven berücksichtigen: die israelischen Sicherheits- und Identitätsinteressen sowie die palästinensischen Rechte und die internationale Rechtslage.
Einerseits sehen viele Israelis in den Siedlungen eine legitime Ausdrucksform historischer, religiöser und sicherheitspolitischer Ansprüche. Teile der israelischen Politik betonen, dass jüdische Präsenz im Westjordanland – in biblischer Tradition auch „Judäa und Samaria“ genannt – ein Recht auf Rückkehr zu historischen Wurzeln darstellt. Zudem wird argumentiert, dass die strategische Tiefe, die die Region bietet, für Israels Sicherheit angesichts regionaler Bedrohungen wichtig sei. Manche Israelis verstehen die Siedlungen auch als Verhandlungsmasse in einem zukünftigen Friedensprozess.
Andererseits betrachten die Palästinenser und weite Teile der internationalen Gemeinschaft die Siedlungen als völkerrechtswidrig. Nach Auffassung der Vereinten Nationen verstößt der Bau gegen die Vierte Genfer Konvention, da eine Besatzungsmacht keine eigene Bevölkerung in besetztes Gebiet umsiedeln darf. Kritiker weisen darauf hin, dass die Ausweitung der Siedlungen zu einer Fragmentierung palästinensischer Gebiete führt, was eine zusammenhängende und lebensfähige Palästinenserstaatlichkeit zunehmend erschwert. Darüber hinaus verschärfen Siedlungsbau und die damit verbundenen Einschränkungen für Palästinenser Spannungen im Alltag und schwächen das Vertrauen in einen gerechten Friedensprozess.
Letztlich bleibt der Siedlungsbau ein politisches und moralisches Dilemma: Er ist Ausdruck tiefer verwurzelter israelischer Sicherheits- und Identitätsinteressen, gleichzeitig aber auch ein großes Hindernis für eine Zwei-Staaten-Lösung und für das Vertrauen der Palästinenser in die Verhandlungen. Eine nachhaltige Lösung wird vermutlich nur durch direkte Verhandlungen erreicht werden können, in denen beide Seiten bereit sind, schmerzhafte Kompromisse einzugehen.
23.08.2025
Klöckner vergleicht taz mit NiUS
- Bei einem CDU-Sommerempfang in Koblenz Ende August 2025 stellte Julia Klöckner (CDU) beide Medien – taz und Nius – auf eine Stufe, in dem sie behauptete, in "Methoden und Vorgehensweisen" seien sie „nicht sehr unähnlich“.
- Als Reaktion wies der Deutsche Journalistenverband (DJV) das als „inhaltlich falsch und geschmacklos“ zurück: Nius sei ein Akteur der extremen Rechten, der bewusst journalistische Standards für eine politisch-populistische Agenda unterlässt – im Gegensatz zur taz, die sich an redaktionelle Prinzipien halte.
- Zahlreiche Politiker:innen, darunter SPD, Grüne und Linke, verurteilten Klöckners Gleichsetzung als verharmlosend, unangemessen oder gar unerträglich, insbesondere in ihrer Rolle als Bundestagspräsidentin.
Julia Klöckner, als zweithöchste Repräsentantin der legislativen Gewalt in Deutschland, trägt besondere Verantwortung für die politische Symbolik und medienethische Integrität ihrer öffentlichen Aussagen. Mit ihrem Vergleich der taz und Nius hat sie diese Verantwortung verkannt – und nicht unwesentlich das Vertrauen in die Unterscheidbarkeit von Qualitätsjournalismus und manipulativer Agitation unterminiert.
- Medienethik versus Populistische Agitation
Die taz ist eine genossenschaftlich organisierte, konzernfreie Tageszeitung, die sich klar journalistischen Standards verpflichtet – etwa redaktioneller Unabhängigkeit, Transparenz und Korrekturen bei Fehlern.
Nius hingegen verfolgt ein Agenda-getriebenes, oft reißerisches Format, unterwirft sich nicht dem Pressekodex, nutzt gezielt Skandalisierung und streut Desinformation.
Diese fundamentalen Unterschiede zu ignorieren – besonders von einer Amtsträgerin mit hoher medialer Reichweite – ist nicht nur unangemessen, sondern gefährlich: Es relativiert bewusste Manipulation als legitimen Teil der Medienlandschaft.
- Politische Symbolik und Verantwortung
Die Debatte ist nicht nur ein medienethisches, sondern auch ein politisches Thema. Klöckners Auftritt bei einem Sommerfest, ausgerichtet auf dem Gelände eines Nius-Finanzierers, legt nahe, dass sie eine Nähe oder Gleichwertigkeit suggeriert, die im demokratischen Kontext gefährlich verharmlosend wirkt.
Das Resultat: eine Normalisierung rechtspopulistischer Botschaften, die unter dem Deckmantel der Vielfalt oder Meinungsvielfalt etabliert werden – eine Risikoschrift für die politische Kultur.
- Folgen für öffentliche Wahrnehmung und Medienvertrauen
Reaktionen zeigen, wie weitreichend Klöckners Aussage wirkt:
- SPD-Politiker:innen nannten den Vergleich „absurd“ oder gar „unerträglich“.
- Die Linken-Fraktionschefin forderte gar ihren Rücktritt: Als Bundestagspräsidentin könne sie ein solches Signal nicht aussenden.
- Der DJV warnte vor einer Verwischung demokratischer Medienkultur.
Diese Reaktionen sind kein Lippenbekenntnis – sie spiegeln eine grundsätzliche Empörung darüber wider, wie medienpolitische Verantwortung in diesem Statement missachtet wurde.
Fazit
Der Vergleich der taz mit Nius ist ein medienpolitischer Fauxpas – und schlimmer noch: eine verantwortungslose Entgleisung, insbesondere angesichts Klöckners herausgehobener Rolle. Die Tatsache, dass sie dadurch Qualitätsjournalismus relativiert und rechtspopulistische Strategien normalisiert, spricht eine klare Sprache: Solche Aussagen schwächen gesellschaftliche Differenzierungsfähigkeit und Vertrauen in mediale Institutionen – und niemand sollte das einfach hinnnehmen.
08.08.2025
Meinung zum heutigen Urteil des Arbeitsgerichts Hamm zu Schwangerschaftsabbrüchen
Das Arbeitsgericht Hamm hat am 8. August 2025 entschieden, dass das Untersagen, medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, durch Krankenhausträger an einem christlich geführten Klinikum in Lippstadt rechtmäßig ist – außer bei Gefahr für Leib und Leben der Mutter. Die Einschränkung gilt sogar für Praxis-Nebentätigkeiten außerhalb des Klinikums.
Ein Schritt zurück in der medizinischen Versorgung
Dieses Urteil markiert einen Rückschritt in der medizinischen Selbstbestimmung und in der Gewährleistung flächendeckender Gesundheitsversorgung. Besonders im ländlichen Raum, wo bereits jetzt der Zugang zu gynäkologischen Leistungen eingeschränkt ist, verschärft sich die Lage weiter.
Das Verbot untergräbt nicht nur die ärztliche Berufsfreiheit, sondern auch das Vertrauen in die medizinische Neutralität – insbesondere, wenn religiöse Dogmen die Behandlung entscheiden, nicht medizinische Notwendigkeit.
Pressefreiheit vs. religiöse Bindung im Krankenhaus
Ein öffentliches Krankenhaus sollte primär dem Wohl der Patient*innen verpflichtet sein – nicht religiösen Vorgaben. Der Chefarzt Joachim Volz sprach klar: „Meine Hilfe ist keine Sünde“. Wenn jedoch die medizinische Verantwortung hinter institutionellen Glaubensgeboten zurückstecken muss, geraten die grundlegenden Prinzipien der medizinischen Ethik ins Wanken.
Recht und Moral im Konflikt
Deutschland erlaubt einen Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche straffrei, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Beratung, Wartezeit und ggf. medizinische oder kriminologische Indikation. Doch das heutige Urteil zeigt, dass trotz legaler Rahmenbedingungen religiöse Träger eigene Regeln setzen, die diesen Rahmen konterkarieren.
Konsequenzen für Betroffene
- Ein weiterer Zugangshindernis: Schwangere werden gezwungen, weite Wege auf sich zu nehmen oder mit langen Wartezeiten zu kämpfen, obwohl eine medizinische Notwendigkeit vorliegt.
- Unsicherheit für Ärzte: Ein Arzt, dessen eigene Praxis nicht betroffen sein könnte, sieht sich durch ein Urteil bewusst eingeschränkt – die Pflicht zur medizinischen Versorgung scheint nicht mehr gesichert.
- Signalwirkung: Das Urteil könnte Vorbild für weitere Einschränkungen in anderen kirchlich geprägten Einrichtungen sein.
Fazit
Das heutige Urteil des Arbeitsgerichts Hamm steht in scharfem Widerspruch zu den rechtlich verankerten Prinzipien reproduktiver Gesundheit und ärztlicher Autonomie in Deutschland. Es ist ein Schlag ins Gesicht von Patientenrechten, Straffreiheit und medizinischer Versorgung — und ein bedenkliches Machtmittel legal geschützter Einrichtungen, Glaubensvorgaben über das ärztliche Ethos zu stellen.
30.07.2025
Reformen der Sozialsysteme
In der Westdeutschen Zeitung von heute lese ich in einem Kommentar von Kristina Dunz den folgenden Satz:
"Es wird spürbare Reformen beim Bürgergeld, bei der Rente, der Pflege, der Krankenversicherung geben müssen. Trifft die Regierung keine gerechte Auswahl, verliert die demokratische Mitte weiter an Rückhalt."
Spürbare Reformen bedeutet in diesem Zusammenhang sicher Kürzungen. Dass sich das am massivsten bei den Ärmsten im Lande auswirken wird, liegt auf der Hand.
Ich teile die Auffassung, dass die Renten-, Pflege- und Krankenversicherung reformiert werden müssen, beim Bürgergeld habe ich da so meine Zweifel.
Ich bin aber so lange nicht bereit über solche Einschnitte, die eben wieder die Ärmsten treffen, nachzudenken, solang wir nicht über Reichtum reden. Solange die sog. demokratische Mitte (Ich wüsste gerne einmal, was das ist.) nicht bereit ist, ernsthaft über eine Vermögenssteuer, die Erbschaftssteuer, eine massive Verfolgung von Steuerhinterziehung und eine Verhinderung von Steuerumgehungen nachzudenken, bin ich jedenfalls nicht bereit zu akzeptieren über Kürzungen bei den Sozialsystemen nachzudenken.